Slow Travel durch Europa – Eine Ode an die Bahnreise

„Es wird Zeit für Urlaub“, sagte Björn Ende 2018 zu mir. „Urlaub? Klar, immer. Ich will dir all meine Lieblingsplätze in Spanien zeigen. Ich will wieder nach Spanien. Durch kleine Gassen schlendern, leckeres Essen genießen, tanzen und Wein im Sonnenuntergang trinken.“ Damals hatten wir beide ein stressiges Jahr 2017 und 18 hinter uns, mit Orts-, Land- und Jobwechsel, verbunden mit vielen Projekten und engen Deadlines. Wir waren einfach nur urlaubsreif. Die Sehnsucht des Körpers nach Ruhe und Erholung hatte sich bei mir besonders im Gesicht abgezeichnet. Erst jetzt beim Durchsehen der alten Fotos, fällt mir auf, wie schlecht meine Haut durch den vielen Stress ausgesehen hat. Neben den Unreinheiten hatte ich auf einmal auch mit Rosazea zu kämpfen. Ich hätte locker als vierzehnjähriges Model für Clearasil durchstarten können, allerdings nur für die Vorher-Aufnahmen. Da das hier aber kein Beautyblog ist, werde ich euch vor den Fotos meiner Haut damals lieber verschonen und stattdessen zum Thema Reisen mit der Bahn überleiten.

Wie wollen wir in den Urlaub fahren?

Die Fragen nach dem Wohin und Wann waren schnell beantwortet, aber das Wie musste noch ausgiebig diskutiert werden. Ich hatte mich darauf festgelegt, dass ich nie mehr – außer im Notfall und in ausweglosen Situationen – fliegen wollte. Seit meinem siebten Lebensjahr bin ich von A nach C über B geflogen und jetzt habe ich einfach keine Lust mehr darauf. Ich will das einfach nicht mehr. Die Grünen feiern diesen Satz sicher gerade ganz hart, aber das hat für mich weniger mit ökologischen Gründen oder irgendwelchen Trends zu tun, sondern vielmehr mit meiner persönlichen Einstellung zum Reisen. Fliegen ist für mich purer Stress. Im Laufe meines Lebens habe ich eine gewisse Angst oder Sorge vor dem Fliegen entwickelt – ja, statistisch gesehen ist sie irrational, als Fußgänger lebt man gefährlicher als als Flugpassagier – und dazu noch dieses ganze Kofferpacken und Abwiegen, auf die Abmessungen achten und dann Stunden vorher beim Check-in sein, die Sicherheitsüberprüfungen, das überteuerte Flughafenessen und -trinken, die Losverkäufer im Flugzeug. Ihr wisst, was ich meine, ihr seid bestimmt schon einmal geflogen. Ich will in den Urlaub, aber nicht gestresst und dafür nehme ich längeres Reisen gerne in Kauf.

Ich mag die Reise an sich. Den Prozess des Reisens. Die Bewegung. Ich schaue aus dem Fenster zu, wie sich die Landschaft langsam verändert, wie das Licht seine Farbe und Leuchtkraft wechselt. Ich mag das Gefühl von fließendem Reisen, das mich den Weg und die Entfernung spüren lässt. Ich mag es zwischendrin zu halten und zu beobachten, wer ein- und aussteigt. Europa ist überdies gar nicht so groß, wie es auf der Landkarte ausschaut. Innerhalb weniger Stunden lassen sich viele Orte erreichen und wieder verlassen, vorausgesetzt es ist keine Insel während der Nebensaison.

Alternative Reisemittel zum Flugzeug waren das Auto, das wir nicht besaßen, ein Van, den wir nicht hatten und nicht umbauen wollten, die Fähre, vielleicht ein anderes Mal und die Bahn. Bahn fahre ich sehr gerne. Ich liebe es stundenlang einfach nur aus dem Fenster zu schauen und zu beobachten, wie die Häuser an einem vorbeiziehen, wie die Bäume wie lustige Schatten an mir vorbeispringen, die ein- und aussteigenden Fahrgäste und das leichte Schwanken des Zuges, das mich in den Schlaf wiegt. Bahnfahren ist für mich Abenteuer und Entspannung zugleich. Ich habe Björn ziemlich schnell davon überzeugt, irgendwohin mit der Bahn zu fahren, nein eigentlich nicht irgendwohin, sondern an einen ganz bestimmten Ort. Es sollte ein Ort werden, an den wir beide jedes Jahr zurückkehren wollen.

Mit der Bahn nach Sitges

Während meiner Zeit in Barcelona habe ich begonnen immer wieder dem Großstadttrubel zu entfliehen, besonders während der touristenreichen Sommersaison, indem ich kleine Küstenstädte und Dörfer in Katalonien aufgesucht habe. Eine Stadt hat mich direkt verzaubert. An einem frühen Nachmittag bin ich nach Sitges gefahren. Ich erinnere mich gar nicht mehr genau, wie ich auf diese Stadt gekommen bin. Eine Empfehlung ist es nicht gewesen und viel recherchiert habe ich auch nicht. Ich vermute, ich habe einfach nur geschaut, wie weit ich mit der Regionalbahn komme. Den Strand von Castelldefels kannte ich schon einigermaßen gut und neben den Seat Managern zu liegen, hat mich nicht sehr gereizt. Also bin ich wohl einfach an der nächsten Station ausgestiegen. Der erste Eindruck vom Bahnhofsvorplatz und den umgebenden Straßen war nicht besonders eindrucksvoll. Es gab einen Mercadona und einige Bäcker, Biosupermärkte wie Veritas und Ametller Origen, aber sonst war er nicht weiter erwähnenswert. Also bin ich die Straße Richtung Strand gelaufen und dann war ich von der Stadt geflasht. Den Tag war Gay Pride in Sitges und klar, ist das ein großer Feiertag in Barcelona, mit Fiesta und Parade, aber in Sitges, ist es das Ereignis des Jahres. Das Glitzer, die Regenbogenfarben, die vielen Menschen, die sich selbst gefeiert haben, dafür wie sie sind. Das war einfach beeindruckend. Ringsum Musik aus allen Fenstern und Straßen, Glitzer und Konfetti fallen von den Balkonen, die Menschen drehen sich im Kreis und trinken und singen und tanzen. Die ganze Stadt war während dieses Tages eine einzige große Party. Das war das eine und dann bin ich am Strand die Promenade entlang geschlendert bis zu einer großen Mauer. Eine Treppe führte mich nach oben zur Kirche San Bartolomé y Santa Tecla. Eine Treppe, die sich am Meer erhebt. Oben am Kirchplatz angekommen, schaue ich hoch zum Kirchturm und betrachte langsam die leicht rosé gefärbte Fassade, die im Sonnenlicht erstrahlt und um mich herum das sattblaue Meer und Wellen, die ihre schaumigen Spitzen gegen die Mauer schlagen. Genau das war der Augenblick, indem sich Sitges, diese kleine feiernde Stadt in mein Herz gebrannt hat. Diesen besonderen Ort wollte ich unbedingt mit Björn teilen. Ich wollte ihm unbedingt diese Stadt zeigen, die so anders ist, als alles, was ich bisher gesehen habe.

Hochschauen zur Kirche San Bartolomé y Santa Tecla

Zwischenhalt in Paris - auf ein Bier und ein Baguette zwischen zwei Bahnhöfen

Mit dem Auto wollten wir nicht fahren und Fliegen war ausgeschlossen, also recherchierte ich Bahnverbindungen. Eigentlich war das recht einfach. Wir mussten nur zusehen, dass wir mit der Bahn so südlich wie möglich kommen. Ich wusste auch, dass Barcelona eine hervorragende Verbindung nach Paris hat. Also mussten wir zunächst nur von Hannover nach Paris. Das sollte kein Problem darstellen. Mit der Bahn nach Paris sind bestimmt schon einige gereist, aber wer hat sich getraut weiterzufahren? Wir haben es ausprobiert. Nach zwei Übernachtungen in Paris sind wir aufgebrochen nach Barcelona und in Barcelona angekommen, mussten wir nur noch mit der Regionalbahn nach Sitges fahren.

Notre Dame von Paris

Auf einer Brücke über der Seine

Anstoßen mit französischem Bier auf die Ankunft in Paris

Ein kleiner Snack in Paris

Von Hannover nach Paris waren wir insgesamt sechseinhalb Stunden unterwegs. Es gibt keine Direktverbindung, sodass wir in Mannheim in den TGV umsteigen mussten. Mit 320 Sachen geht es im TGV über die französische Grenze. Von Paris aus benötigt man weitere sechseinhalb Stunden mit der spanischen Bahn Renfe bis nach Barcelona. Am Bahnhof in Barcelona Sants angekommen, steigt man in die Linie R2, die die südliche Küste Barcelonas entlangfährt. Bahnfahren durch Europa klingt einfach und das ist es auch, aber für solch eine Reise muss man Zeit und Muße mitbringen und Geduld sowie ein wenig Nachsicht und manchmal auch einen Plan B.

Mit 320 km/h im TGV nach Paris Ostbahnhof

Diese Bahnfahrt hat uns so viel Spaß gemacht und die Zeit verging wie im Fluge. Björn hat im ICE, im TGV und am übernächsten Tag in der Renfe an einem Kundenprojekt gearbeitet und ich habe aus dem Fenster geschaut, gelesen, fotografiert und geschrieben. Mir ist aufgefallen, dass Bahnreisende, die sich darauf einstellen, mehrere Stunden unterwegs zu sein und mehrere Länder zu durchqueren, anders reisen. Sie haben eine andere Einstellung zur Reise und das sieht man ihnen an. Ihre Gesichtszüge sind entspannt, ja fast faltenfrei. Es wird fröhlich gelacht und getuschelt oder einfach nur vor sich hin gedöst oder gegessen. Auch Kinder sind entspannter. Sie toben in den Gängen oder auf den Treppen, suchen sich Nischen als Rückzugsorte oder lassen sich von ihren Eltern erklären, was sie gerade aus dem Fenster beobachten können.

Ein Vorort von Paris

Paris, Nimes, Montpellier, Sete, Narbonne, Perpignan

Vorbeiziehende Städte: zunächst die Metropole Paris mit ihrem Glanz und Gloria, dann die heruntergekommenen Banlieues. Die Fahrt gibt Kindern und Eltern zugleich einen Anstoß über die Verhältnisse in der Gesellschaft nachzudenken und Eltern können sich von ihren Kindern belehren lassen, was gegen Arm und Reich getan werden kann. In der Pädagogik nennt man das Entdeckendes Lernen.

Der Himmel klart auf, die Sonne bricht herein. Erst Montpellier, dann Narbonne, und Perpignan ist die Grenzstadt zu Katalonien. Wir sind in Südfrankreich und der Weg führt uns am Meer entlang. Vögel hüpfen im Naturschutzgebiet links und rechts von uns, Salzfelder, alte Holzhütten, die im Wasser zu stehen scheinen und ein Fahrradfahrer mit einer Angel, die über den Gepäckträger ragt, fährt auf dem kleinen Schotterweg neben uns her. Nach Perpignan nur die Pyrenäen und 200 weitere Kilometer, die uns von Barcelona trennen.

Vorbeifahren an Nimes

Vorbeifahren an Montpellier Wir passieren Narbonne

Figueres, Girona, Barcelona

Die Mitreisenden verlassen uns nach und nach. Girona, Figueres und dann sind wir nur noch vereinzelte Grüppchen von Reisenden, einige hart gesonnene Touristen und Tagespendler auf dem Weg zum Meeting oder vom Meeting. Das kann ich ihnen nicht ansehen. Am Nachmittag sind wir in Barcelona. Hier in Barcelona Estación Sants standen für uns die Bahnen in die spanische Welt bereit. Bleiben wir aber zunächst in der Nähe. Wir setzten auf Erholung und eine schöne Zeit am Meer. Ohne Übernachtung ging es für uns weiter nach Sitges mit einer der Regionalbahnen. Die fahren hier in der Metropolregion im zehn-, fünfzehn-, zwanzig-Minuten-Takt. Wir stehen am Bahnsteig 11 und warten auf die Einfahrt der Bahn. Sie lässt nicht lange auf sich warten. Es ist unter der Woche. Die Menschen steuern auf ihren Feierabend zu und wollen die Großstadt verlassen, um in ihre Heimatdörfer, Vororte zurückzukehren und zu entspannen. Der Bahnsteig füllt sich allmählich. Die Bahn fährt ein und ist bereits voll. Wir stellen uns in einen der Gänge, ich mit meinem 70 Liter Koffer und Rucksack. Reisen mit leichtem Gepäck muss erst noch gelernt sein. Nach etwas über einer halben Stunde sind wir da, an unserem Zielbahnhof in Sitges.

Salzfelder von Villeroy (Sete)

Blick aus dem Fenster auf die Salzfelder von Villeroy (Sete)

Vorbeifahren an einem Salzfeld in Sete

Ankommen in Sitges

Und der nächste Urlaub?

Diese Bahnfahrt verlief so smooth, dass wir 2020 gedacht haben, let’s bring Bahnfahren durch Europa to the next level. Gesagt, getan! Erste Challenge war es, mit der Bahn von Hannover nach Cádiz zu kommen und die zweite Challenge ohne Übernachtung in Paris, das heißt mit Umstieg am selben Tag von Paris nach Barcelona zu kommen. Challenges accepted! Wie die Reise 2020 für uns tatsächlich gelaufen ist und ob wir die Challenges gemeistert haben, lest ihr im nächsten Artikel. Ich verrate nur so viel, dass nicht alles nach Plan gelaufen ist und es spannend war, sehr, sehr spannend.

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