Stadtflucht auf Probe

Jetzt ist es zu spät seine Meinung zu ändern. Gestern war der Notartermin bei dem wir den Kaufvertrag unterschrieben haben. Kein Zurück mehr. Egal wie gut man sich auf diesen Termin vorbereitet hat, man ist nie genug vorbereitet. Der gestrige Gemütszustand war ein Molotowcocktail der Gefühle. Die Hauptkomponenten waren Adrenalin, Vorfreude und Glück, gefolgt von einer Unternote Angst und dem flauen Gefühl sich festzulegen. Die Vorfreude überwog allerdings deutlich im Geschmack und rundete den Cocktail ab, sodass es nicht zu einer gefährlichen Explosion der Gefühle kam und der Kater am nächsten Tag ausblieb. Das, was beim Notar selbst geschah, war allerdings nicht halb so spektakulär wie das, was sich in unserem Inneren abspielte. Die Parteien Käufer und Verkäufer saßen auf einer Seite, der Notar auf der anderen Seite des langen Tisches, getrennt von einer Corona konformen Trennscheibe. Er verlas den zuvor versendeten und abgesegneten Kaufvertrag laut und schnell und erklärte noch zwei, drei Absätze. Die Unterschrift wurde ganz unspektakulär drunter gesetzt. Wir hatten erwartet, dass der Vertrag mit Wachssiegel oder mindestens einem Stempel für gültig erklärt wird und jeder ein Exemplar davon in die Hand gedrückt bekommt, samt Anstecker “Stolze Hausbesitzer”. Unsere Erwartungen wurden jedoch gnadenlos nicht erfüllt. In die Hand haben wir nichts gedrückt bekommen und wegen Corona blieb sogar der feuchte Händedruck aus. Jetzt ist es tatsächlich real geworden. Wir haben das Haus in der Kleinstadt gekauft und werden dorthin ziehen.

Eine gelbe Wiese

Unsere Stadtflucht auf Probe haben wir bereits hinter uns. Schon 2019 haben wir uns überlegt für einen Monat ein AirBnB auf dem Land zu mieten und Landluft zu schnuppern, stattdessen sind wir aber lieber an die Sonne und das Meer gefahren. In 2020 aber haben wir unser Experiment durchgeführt. In Hannover waren monatelang die Geschäfte geschlossen, die Cafés waren geschlossen, es gab kein Kino und kein Theater, keine Drinks in Bars und kein Tanzen bis nach Mitternacht. Was es aber gab, war Corona.

Wir saßen zu zweit im Home Office in unserer zwei Zimmer Wohnung, vierundzwanzig Stunden und sieben Tage die Woche auf fünfundfünfzig Quadratmetern. Ihr denkt, es sei meckern auf hohem Niveau. Für mich keinesfalls. Was sollte man in der Stadt bloß noch tun, wenn es nichts zu tun gab? Die Eilenriede kannten wir nach nur einer Woche in und auswendig. Aus purer Verzweiflung war ich sogar dreimal joggen, vielleicht waren es auch nur zweimal, und einige Male walken. Die Verzweiflung war wohl nicht so groß, denn für mehr hat es doch nicht gereicht. Aber von Stadt hatte ich erst einmal genug und brauchte einen Tapetenwechsel. Da kam uns grade gelegen, dass wir die Wohnung der Schwiegereltern hüten mussten. Die Schwiegereltern sind für zwei Wochen verreist und wir haben ihr Haus gehütet und Erledigungen für die Schwiegeroma gemacht.

Bäume

Ich will euch von meinen Erfahrungen dieser Stadtflucht auf Probe erzählen. Unser Alltag sah so aus, dass wir früh aufgestanden sind und den Tag mit einem guten Frühstück mit Brötchen vom Bäcker um die Ecke begonnen haben. Die Brötchen waren noch solche, wie man sie von früher kennt, handgemacht und selbst gebacken frühmorgens in der Bäckerei. Dazu gab es Käse vom Markt und Aufschnitt vom Fleischer und nicht von der Wursttheke im Supermarkt um die Ecke. Ja, in der Kleinstadt gibt es noch das gute Handwerk. Nach dem Frühstück wurde an einigen Tagen gearbeitet und an anderen wiederum haben wir einen Ausflug runter in die Innenstadt gemacht. Mittags wurde gemeinsam gekocht und anschließend haben wir einen Ausflug auf den nahgelegenen Hügel gemacht. Das ist der Vorteil der Kleinstadt, im Grünen ist man innerhalb von nur wenigen Minuten. Oben auf dem blauen Haufen saßen wir oft auf der Bank und schauten runter ins Tal und stellten uns vor, wie es wäre von Hannover nach Goslar umzuziehen.

An einigen Tagen machten wir längere Touren und fuhren nach Clausthal zum Hirschler Teich. Im Vergleich zu sonst, haben wir viel Zeit draußen verbracht und es kam uns nicht eintönig vor. Ich erinnere mich auch noch an das angenehme Gefühl, auf der Straße gegrüßt zu werden, einfach so, ohne sich zu kennen, als Ausdruck oder Zeichen der inneren Verbundenheit von Kleinstädtern. Beim ersten mal war ich sehr irritiert, schaute verdutzt drein und versuchte mich den ganzen Weg lang daran zu erinnern, woher ich die Person kenne. Beim zweiten mal, war es für mich nur noch ein Gefühl des Willkommenseins. Dieses Gefühl habe ich schon lange nicht gespürt, denn das Leben in Hannover fühlte sich mehr wie ein Zwischenstand an, nichts Halbes und nichts Ganzes. „Es wird endlich Zeit zum Ankommen.“, sagt mir das Herz. Ein Leben auf Koffern, eine Umzugskiste da, die andere auf dem Dachboden der Eltern. Es wird endlich Zeit die Koffer auszupacken und die Umzugskartons ins Heim zu holen.

Hirschler Teiche Weg in einen dunklen Tannenwald

Was ich noch unbedingt zu meinem Kleinstadtexperiment hinzufügen will, ist die Ruhe und Zentriertheit, für die es in der Stadt keinen Platz gibt. Dort Ticken die Uhren anders, die Menschen hetzen, die Autofahrer rasen und hupen und auch in der Nacht findet die Stadt keine Ruhe. Nachts wache ich manchmal von dem Krach im Innenhof auf, wenn mal wieder jemand Mitten in der Nacht den Drang verspürt seinen Müll in den Container zu werfen oder mit dem Garagentor zu knallen. In der Stadt entgeht einem gar nichts. Die Bewegungsmelder im Innenhof sind wie Strahler, es sind wohlgemerkt fünf, wie ich letze Nacht gezählt habe, die bei der kleinsten Regung aufblitzen und den Übeltäter auf frischer Tat ertappen. Der Innenhof ist nachts besser ausgeleuchtet als die HDI Arena mit ihren Flutlichtern und leider auch unser Schlafzimmer, weil wir keine Außenjalousien haben und die Rollos nie ganz lichtundurchlässig sind. In Goslar habe ich geschlafen, wie ein neugeborenes Baby nach einem Bad.

Allerdings lässt sich das Experiment nicht als valide bezeichnen, denn es wurde nicht unter realen Voraussetzungen durchgeführt. Unsere Stadtflucht auf Probe bestand überwiegend aus einem Tourismusprogramm gespickt mit Museumsbesuchen und Ausflügen ins Umland. Es war unser kleiner Urlaub in der Kleinstadt. Wenn mir da jemand gesagt hätten, dass diese Kleinstadt in einem Jahr unser neues Zuhause sein wird, hätte ich’s nicht geglaubt.

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