Slow Travel durch Europa – langsam reisen mit der Bahn von Hannover nach Cádiz
Ich bin euch noch einen Reisebericht über unsere Bahnfahrt von Hannover nach Cádiz schuldig. Eine Geschichte über eine 2.700 km lange Reise benötigt Zeit, um erzählt zu werden. Heute habe ich endlich die Zeit gefunden, unser Abenteuer niederzuschreiben. Natürlich sitze ich dabei wieder im Zug. Dieses Mal auf einer Fahrt von Goslar nach Düsseldorf. Ich habe viel Zeit, da sich meine Bahnfahrt aufgrund eines medizinischen Einsatzes auf der Strecke um anderthalb Stunden verlängert.
Bevor ich mit meinem Reisebericht beginne, möchte ich euch aber noch fünf Learnings mitgeben, die ich von meiner letzten Bahnreise in den Urlaub mitgenommen habe:
5 Tipps, um entspannt mit dem Zug zu reisen
- Bei Zugreisen ist weniger wirklich mehr. Plane deine Outfits sorgfältig und reise lieber mit leichtem Gepäck. Du musst jedes Kilo auf der Hin- und Rückfahrt mit dir schleppen.
- Besser Rucksack statt Koffer. Wenn ich an den Umstieg in Paris und den dicken Koffer denke, breche ich schon zusammen.
- Plane viel Zeit zum Umsteigen ein. Der zeitliche Puffer kann nie zu groß sein. Da spreche ich aus langjähriger Bahnfahrerfahrung.
- Bleib gelassen, getreu dem Motto „Glück im Unglück“. Manchmal führen die blödesten Umstände zu den besten Reisestorys.
- Besorge dir ein Kofferschloss. Dann kannst du entspannt ein Schläfchen machen und in das Land der Träume eintauchen.
Der Reiseplan
Unsere Tickets für 2020 haben wir kurzfristig gebucht, allerdings nur weil wir keine andere Möglichkeit hatten. Die Bahntickets Paris – Barcelona mit der spanischen Bahngesellschaft Renfe kann man frühestens drei Monate im Voraus kaufen. So sitzen wir pünktlich am Neujahrstag morgens am Computer und buchen die Tickets für die Hinfahrt von Paris nach Barcelona am 1. März. Die Tickets für die Rückfahrt können wir erst einige Wochen später buchen. Anders als mit dem Flugzeug muss man beim Urlaub mit der Bahn Spannungen aushalten können. Einerseits muss man langfristig planen, um die besten und günstigsten Angebote rauszusuchen. Andererseits muss man spontan sein und keine Angst davor haben, dass die Urlaubsreise nicht gleich am Stück geplant werden kann. Beim Slow Travel Tourismus durch Europa ist Flexibilität das Stichwort und dass wir davon jede Menge brauchen werden, haben wir vor Antritt der Fahrt nicht gedacht.
Der geplante Reiseverlauf:
Am 28. Februar 2020 nehmen wir um 5:19 Uhr die Bahn von Hannover Hbf nach Paris Est mit Zwischenhalt in Frankfurt (Main). Gegen 12:52 Uhr kommen wir voraussichtlich in Paris an und fahren um 15:08 Uhr von Paris Gare de Lyon ohne Umstieg nach Spanien. Gegen ca. 21:46 Uhr sind wir in Barcelona und nehmen eine der Regionalbahnen nach Sitges, die alle paar Minuten verkehren. In Sitges bleiben wir für zwei Nächte in einem kleinen Hotel. Am 1. März geht um 8:30 Uhr der Zug nach Cádiz und um 16:27 Uhr sind wir endlich da. Wir haben ein kleines Apartment mit Dachterrasse im Stadtteil El Barrio de Santa María gebucht. Es befindet sich in direkter Nähe zum Playa Santa María del Mar. Bis zum 30. März bleiben wir in Cádiz und erkunden die Stadt und die feinen Sandstrände in der Provinz, die denen in der Karibik in nichts nachstehen. Willst du immer in die Ferne schweifen? Schon Goethe wusste, dass das Gute so nah liegt. Am 30. März geht unser Abenteuer weiter. Wir fahren wieder Richtung Sitges und bleiben dort bis zum 19. April. Dann treten wir die Rückreise an und nehmen Abschied von unserem geliebten Urlaubsort. Wir fahren wieder von Barcelona über Paris und Frankfurt nach Hannover, wobei wir dieses Mal eine Übernachtung in Paris einplanen müssen, weil die Fahrzeiten leider ungünstig liegen.
Langsam und bewusst reisen – Bahnfahren bis nach Cádiz
Um von Hannover nach Barcelona zu kommen, bleiben Umstiege leider nicht aus. Umstiege, diese fiesen Sollbruchstellen einer reibungslosen Bahnfahrt, auf die ich so gerne verzichten würde. Wenn man von Hannover nach Paris fährt, muss man mindestens ein Mal umsteigen. Das kann in Frankfurt am Main sein, in Karlsruhe oder in Mannheim. Wir haben uns dafür entschieden, in Frankfurt am Main umzusteigen, da wir ca. eine Stunde Aufenthalt haben und uns ein schönes Frühstück am Bahnhof gönnen wollen, nachdem wir um 5 Uhr früh das Haus verlassen müssen.
Bis nach Frankfurt geht es mit dem ICE. Die Fahrt dauert nur zweieinhalb Stunden. Der Anschlusszug fährt erst gegen 9:00 Uhr weiter. Wir haben also etwa über eine Stunde Zeit, um die Füße auszustrecken und uns bei Kaffee und Croissants zu entspannen und auf die wohlverdienten Ferien einzustimmen. „Ach, wie schön es ist, mit der Bahn zu fahren“, denke ich, als ich mir die Passanten am Bahnhof ansehe. Zehn Minuten vor Abfahrt gehen wir zu unserem Bahnsteig und warten auf das Eintreffen des Zuges.
Am Bahnhof herrscht reges Gedränge. Es ist viel los in Frankfurt (Main) an diesem Freitag der letzten Februarwoche. Viele Reisende kommen mit Verspätung an. Einige Züge im Süden Deutschlands fallen aus, denn es schneit. Irgendwo rieselt leise der Schnee und die Bahn fällt deutschlandweit aus. So auch unsere Bahn nach Paris, wie wir fünf Minuten vor der ursprünglich geplanten Abfahrtszeit erfahren. Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass wir von Paris aus noch weiter nach Barcelona wollen. Noch am selben Tag. In meinem letzten Slow Travel durch Europa Artikel habe ich berichtet, dass wir uns vorgenommen hatten, auf die Übernachtung in Paris zu verzichten und stattdessen an einem Tag durchzufahren. Wie naiv es doch von uns war zu denken, dass eine Aufenthaltszeit von zwei Stunden genug Puffer wäre für den Wechsel zwischen den Bahnhöfen und für Unvorhergesehenes! Manch anderer mag sagen, wir haben zu optimistisch geplant. Im Nachhinein denken wir, es war zu blauäugig, sich darauf zu verlassen, dass die Bahn doch keine zwei Stunden Verspätung haben wird. Dieser Fehler hätte uns das ganze Vorhaben versauen können.
Wettlauf mit der Zeit
Es wären knapp zwei Stunden Aufenthaltszeit, die wir gehabt hätten, wenn wir nach Plan in Frankreich angekommen wären. Ab jetzt beginnt der Countdown runterzuzählen. Wir rennen mit unseren riesigen Rucksäcken zum nächsten Informationsschalter und reihen uns in die Schlange ein. Nach einiger Wartezeit schickt uns die DB-Mitarbeiterin zum nächsten Zug, der nach Karlsruhe fährt. In Karlsruhe können wir nach Paris weiterfahren. Wenn alles gut läuft, haben wir noch anderthalb Stunden zum Umsteigen in Paris. Wir warten in Frankfurt (Main) auf die Bahn nach Karlsruhe, aber sie kommt einfach nicht. Leider gibt es keine Infos, wann sie kommt und ein Bahnmitarbeiter ist weit und breit nicht in Sicht. Nach einigen Minuten trifft sie endlich ein. Wir sichern uns zwei Plätze in der Nähe der Gepäckablagen und sind einfach nur froh darüber, dass es weitergeht. Als wir in Karlsruhe eintreffen, wird der eingeplante Puffer immer kleiner, aber das Ziel ist noch immer erreichbar. In Karlsruhe kommt ungünstigerweise auch der ICE mit Verspätung an. Björn und ich werden von der am Bahnsteig wartenden Menschenmasse in den Waggon gepresst. Von einem Sitzplatz können wir hier nur träumen. Wir stehen mit unseren Rucksäcken im Gang, verloren zwischen Wagen 22 und 24. Irgendwo im Nirgendwo höre ich verzweifelte Kinderschreie. Mein Kopf pocht. Die Uhr an meinem Handgelenk tickt immer schneller und immer lauter. Ich schaue mich nervös um, ob der Zug sich vielleicht schon in Bewegung gesetzt hat. Nein, wir rühren uns nicht. Etwas scheint nicht zu stimmen. Merde, putain! Die französischen Flüche werden immer lauter. Okay, jetzt kommt eine Durchsage. Ach so, solange die Passagiere stehen, können wir nicht fahren. Wir sollen uns auf einen Platz setzen. Unverständliches Gemurmel erfüllt den Waggon. Tik tok, tik tok. Ich sehe hier keinen freien Platz. Die Durchsage kommt jetzt noch weitere zwei oder drei Mal. Mein Puffer verpufft langsam. Nägelkauend schaue ich mich im Wagen um, aber noch immer sehe ich keinen freien Platz. Ich überlege noch, wie es wohl aussieht, wenn sich die in den Gängen stehenden Passagiere einfach auf den Schoß der Anderen setzen. Das wäre eine Überlegung wert und so lernt man seine Mitfahrer näher kennen.
Siehe da, jetzt setzt der ICE sich endlich in Bewegung. Es geht also doch. Nach unserem Ankommen in Paris beträgt die Aufenthaltszeit bis zur Abfahrt nach Barcelona noch 25 Minuten. In Paris müssen wir allerdings vom Gare de l’Est zum Gare de Lyon und dafür benötigt man mit der Metro ca. 15–17 Minuten. Das wird also eine knappe Kiste. Wir müssen mit den schweren Rucksäcken rennen. Ich könnte heulen.
Wir kommen in Paris an und rennen um unser Leben. Wir rennen in die Metro und dort, vor den Ticketautomaten, steht eine riesige Schlange. Ich sehe ein älteres Paar, das mit uns unterwegs war. Sie haben schon Metrotickets vorab gekauft. Sehr schlau von euch! Auch sie rennen jetzt durch die Tunnel um ihr Leben. Wir steigen in die einfahrende Metro und am Gare de Lyon wieder aus und rennen mal wieder. Wir rennen zum Bahnsteig und kommen natürlich zu spät. Wir sehen noch in der Ferne die Bahn davonfahren und winken ihr leicht verstört zu. Jetzt könnte ich wirklich heulen. Entrüstet lassen wir uns auf die nächste Bank fallen und recherchieren im Internet nach der nächsten Verbindung. Es gibt einen Nachtzug mit drei Umstiegen für insgesamt 600 EUR. Na ja, notfalls auch das. Übermorgen müssen wir schließlich wieder im Zug von Barcelona nach Cadiz sitzen.
Eine unerwartete Nacht in Paris
Es nützt nichts, wir müssen uns im Kundencenter der französischen Bahngesellschaft SNCF beraten lassen. Ich hoffe bloß, dass meine Fremdsprachenkenntnisse im Französischen ausreichen, um uns verständlich zu machen. Ähm, je suis perdu. An die Pluralform erinnere ich mich nicht. Dort treffen wir auf das ältere Paar, das uns am Drehkreuz zur Metro überholt hat. Sie haben es wohl auch nicht geschafft. Wir kommen ins Gespräch und erfahren, dass die beiden mit Interrail Richtung Alicante oder Valencia wollen, um alte Bekannte zu besuchen. Gleich darauf kommt eine Mitarbeiterin von SNCF zu uns und will unsere Bahntickets der Deutschen Bahn und unsere Ausweise sehen. Wir haben nicht so richtig verstanden, was sie damit vorhat. Sie soll bloß keine Buchung ohne unser Einverständnis machen. Sie schaut etwas in einer Datenbank auf ihrem Computer nach. Ob die Bahn in Frankfurt (Main) Verspätung hatte, will sie wissen. „Nein, nein. Sie ist witterungsbedingt ausgefallen. Dann sind wir nach Karlsruhe, dort kam es zu Verspätungen. Wir wollen weiter nach Barcelona, ob es nicht einen Nachtzug gibt?“, fragen wir auf Englisch.
Mit einer schnellen Handbewegung tut sie unsere Idee ab und was dann passiert, hätte ich nie erwartet. Sie bucht uns auf den nächsten Zug um, sodass wir am nächsten Tag am frühen Nachmittag schon in Barça ankommen. Für die Übernachtung organisiert sie uns ein Doppelzimmer im Novotel am Gare de Lyon, damit wir morgen keine lange Anfahrt haben. Excusez-moi? Björn kann meine Gedanken von meinem Gesichtsausdruck ablesen und zückt schon seine Karte und legt sie auf den Tresen. „Nein, nein“, sagt die Bahnmitarbeiterin und schiebt seine Karte von sich weg. „Wie viel kostet denn die Hotelübernachtung?“, frage ich, um sicherzugehen. „Es wird alles übernommen. Sie brauchen sich um nichts zu kümmern.“ Wir bedanken uns und verlassen leicht irritiert den Serviceschalter.
Gemeinsam mit dem älteren Paar verlassen wir den Bahnhof und machen uns auf den Weg zum Hotel, das zu unserer Überraschung nur wenige Meter schräg gegenüber vom Bahnhof liegt. Der Mitarbeiter am Check-in empfängt uns freundlich und informiert, dass wir morgen ab 6:30 Uhr zum Frühstücksbuffet kommen können. Nach dem turbulenten Tag haben wir uns eine Nacht in der Stadt der Liebe verdient, wie ich finde und so langsam knurrt auch der Magen. „Gibt es hier einen Franprix in der Nähe?“, frage ich. Bevor es etwas zu spachteln gibt, müssen wir aber das schwere Gepäck ablegen und uns frisch machen. Eine warme Dusche ist genau das, was ich zur Erholung benötige und danach ein Baguette, dazu Käse und Wein. In genau dieser Reihenfolge. Als ich aus der Dusche komme, fragt Björn mich aufgeregt, ob ich es auch rieche: „Ich glaub’, es riecht nach Rauch.“ „Aber die Feuermelder würden doch angehen. Das kommt bestimmt von draußen“, erwidere ich. Wir hören aus der Ferne das lauter werdende Geräusch von Sirenen. Ich ziehe mich schnell an und wir gehen raus, um uns etwas zu Essen zu besorgen.
Wir verlassen das Hotel und gehen die Rue de Chalon hinter dem Bahnhof lang, weil wir auf der Karte gesehen hatten, dass es hier einen Supermarkt geben muss. Ah, und jetzt erkennen wir, wo der Rauch herkommt. Am Bahnhofsvorplatz brennen die Mülltonnen. Wir hören Pfeifen und Schreie, lautes Stimmengewirr um uns herum. Überall stehen Polizeiautos und Polizisten mit schweren Waffen. Die Feuerwehr läuft mit Wasserschläuchen aus den kleinen Seitengassen zum Bahnhof. Das ist uns hier zu wild und somit kehren wir wieder um. Heute ist unser Glückstag. Heute ist alles möglich, also lieber nicht auch noch in eine Auseinandersetzung hineingeraten. In der Nähe des Bahnhofs fand heute ein Konzert eines der Regierung der Demokratischen Republik Kongo nahe stehenden Rappers statt. In dem Zusammenhang kam es zu Protesten und Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten und am Gare de Lyon wurde das Feuer entzündet. Vom Hotelzimmerbett verfolge ich mit knurrendem Magen das Geschehen im Internet und hoffe nur, dass der Bahnhof morgen noch steht. Sonst wird es morgen schwierig mit der Weiterfahrt. An einen Trip zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten von Paris ist an dem Abend nicht zu denken. Ich liege auf dem Bett und verfolge die neuesten Tweets. Hungrig ins Bett zu gehen, ist heute aber ganz und gar nicht mein Plan, daher suche ich uns für den Abend ein schönes Lokal in Marais aus.
Petite Dejeuner in Südfrankreich
Die Nacht war gar nicht so schlecht, nach solch einem aufregenden Tag und der Schlaf hat mir richtig gutgetan. Die Ausschreitungen am Vortag wurden schnell eingedämmt und der Bahnhof zur Weiterfahrt freigegeben. Wir können unsere Fahrt in den Süden fortsetzen. Zunächst gönnen wir uns aber noch was vom Frühstücksbuffet im Hotel, das auch in dem kostenlosen Aufenthalt inkludiert ist. So viel Service und Gastfreundschaft! Das widerlegt doch alle Vorurteile gegenüber Frankreich! Um 10 Uhr stehen wir mit Sack und Pack am Bahnsteig. Als wir auf unseren Plätzen sitzen, ertönt für uns aus den Lautsprechern: „Mesdames et Messieurs, bonjour et bienvenus à bord de TGV à destination de Barcelone!“. Et voilà, dieser Satz pusht Endorphine in meinen Körper und eine kindliche Aufgeregtheit erfüllt mich.
Die Strecke PAR-BCN wird als französisch-spanische Kooperation von Renfe und SNCF betrieben (Kurze Anmerkung: Leider ist diese Kooperation 2022 ausgelaufen). An Board gibt es daher einen Speisewagon mit traditioneller Küche Spaniens. Es gibt Bocadillos de Jamón y Queso oder Bocadillos con Tortilla y Aioli. Ich hole uns Café con Leche und Bocadillos con Jamón im Bordbistro und wir genehmigen uns ein zweites Frühstück. Ein petite dejeneur oder auf Spanisch almuerzo. Der kleine Snack nach dem Frühstück. Hinter dem Fenster verändert sich allmählich die Landschaft und in der Ferne erblicke ich das Naturschutzgebiet Étang de Vaccarès und die Salzfelder von Giraud.
Dieses Jahr haben wir weniger Gepäck dabei, als letztes und ich habe den großen Trolly gegen einen Travelrucksack mit 70L eingetauscht. Er ist noch immer viel zu groß. Nächstes Mal nehme ich weniger Schuhe mit. Statt der fünf Paar Schuhen kommen dann nur noch drei mit. Unsere Sitzplätze liegen so, dass wir die Gepäckablage schräg neben oder vor uns sehen. Mein Rucksack passt locker auf eine solche Gepäckablage und so haben wir ihn immer im Blick. Zusätzlich sichern wir die Rucksäcke mit einem Gepäckschloss an der Ablage. „Doppelt hält besser“, denke ich mir. Besonders nachdem, was meiner Cousine auf dem Weg in das Erasmusstudium passiert ist, will ich auf Nummer sicher gehen. Ihr wurde damals der Koffer samt Inhalt aus dem Reisebus gestohlen, als sie auf dem Weg von Oldenburg nach Paris war. Das ist kein guter Start für einen Auslandsaufenthalt. Du kommst in einem fremden Land an und hast nicht einmal ein Höschen dabei. Seit dieser Geschichte bin ich immer in Alarmbereitschaft, wenn es um mein Gepäck und meine kleinen Schätze geht.
Nach dem kleinen Snack finde ich endlich die Zeit, um über das Reisen zu sinnen. Es ist jetzt unsere zweite Tour von Hannover in den Süden. Vergangenes Jahr sind wir „nur“ bis nach Sitges gefahren. Dieses Jahr geht es von Barcelona weiter nach Andalusien, an die Costa de la Luz zu unserem finalen Reiseziel: Cádiz. Ich reise weniger gerne in vollen Zügen und heute ist es zum Glück nicht komplett ausgebucht. Das liegt wohl einfach daran, dass wir in der Nebensaison unterwegs sind. Aber generell, nehme ich an, ziehen Urlauber die Flugreise der Bahnreise vor. Es ist ja auch nicht verwunderlich. Per Flugzeug ist man schneller als per Zug. Nachhaltigkeit hin oder her, nicht jeder hat die Lust oder Zeit, einen oder zwei Tage in der Bahn zu verbringen. Besonders dann nicht, wenn es sich um einen kurzen Städtetrip zum Shoppen in eine Metropole handelt. Ich finde, sich Zeit zum Reisen zu nehmen, ist das Luxusgut unserer modernen Gesellschaft. Fliegen in der Businessclass oder Firstclass war gestern. Wie wäre stattdessen, die nächste Reise mit der Bahn zu machen und einmal im Luxus der Langsamkeit schwelgen? Auf diese Langsamkeit muss man sich aber einlassen können. Entschleunigung ist ein Prozess. Zu Beginn ist sie ein ungewöhnliches Gefühl, weil du ziemlich lange sitzt und dich nur durch kleine Tätigkeiten ablenken kannst, wie Lesen oder einen Film schauen, aber das machst du keine sechs oder acht Stunden am Stück. Zwischendurch erhaschst du einen Ausschnitt der vorbeieilenden Landschaft hinter dem Fenster und nach einer Weile legst du das iPad zur Seite, steckst das Handy weg, klappst das Buch zu und verlierst dich für die nächsten Stunden beim Starren aus dem Fenster. Das kann sehr inspirierend sein. Die Gedanken kommen und gehen genauso schnell, wie das, was hinter dem Fenster ist. Dann schaust du zufällig auf die Uhr und merkst, dass es drei Stunden später ist und wir schon die Pyrenäen überquert haben. Wo ist die Zeit geblieben, fragst du dich, aber du verspürst dabei keinen Druck und kein schlechtes Gewissen. Beim Slow Travel durch Europa geht es nur um dich und deinen Weg.
Ich bin kein militanter Fluggegner. Jeder kann sein Reiseverhalten selbst hinterfragen. Ich reise mit der Bahn, weil ich es liebe. Es werden sich sicher auch Situationen ergeben, in denen ich fliegen muss und das ist auch in Ordnung. Ich kann auch das Argument nachvollziehen, dass Fliegen günstiger ist. Wenn ich jetzt recherchiere, finde ich einen Hin- und Rückflug von HAM nach Jerez de la Frontera für ca. 120 EUR. Das ist ein sehr verlockendes Angebot. Ich dagegen zahle für die Fahrt HAJ-PAR-HAJ 80 EUR. Für die Fahrt PAR-BCN-PAR sind es 70 EUR und BCN-Cádiz-BCN kommen 160 EUR hinzu. Das ist ein stolzer Preis für die Fahrt, aber wenn ich das Vorhaben hinterfrage, komme ich zu einem zufriedenstellenden Ergebnis. Meine Fahrt dauert insgesamt ca. 20 Stunden, ist also vergleichbar mit einem Langstreckenflug nach Sydney. Wenn ich dann auch noch auf die Qualität statt Quantität von Reisen setze und seltener, dafür aber für einen längeren Zeitraum wegfahre, sind wir pari.
Pintxos und Sonnenuntergang in Sitges
Wir kommen am Nachmittag am Bahnhof in Sants an und finden schnell das Gleis, von dem aus die Rodalies nach Sitges abfahren. Im Gegensatz zu Deutschland haben hier die Regionalbahnen fest zugeteilte Gleise. Am Bahnsteig 11 stehen schon die Pendler, die täglich in die Hauptstadt zur Arbeit pendeln. Wir kommen geradeso in die Bahn rein. Eingepfercht zwischen Klapprädern und Trollys fühle ich mich mit meinem überdimensionalen Backpack etwas fehl am Platz. In Hospitalet und Castelldefels wird es zum Glück etwas leerer und wir können das schwere Gepäck abstellen. In der Regionalbahn sind wir langsam unterwegs zu unserem nächsten Etappenziel. Draußen setzt die Dämmerung ein und wir erhalten einen unvergesslichen Blick auf einen Sonnenuntergang an der katalanischen Küste.
Die wenigen Touristen, die in unsere Richtung gefahren sind, sind schon längst ausgestiegen und es sitzen noch vereinzelte Pendler, die heimwärts zu ihren Familien ziehen. Für einen Städtetrip, Partyurlaub oder einen Tagesausflug finde ich Barcelona super, für erholsame Ferien aber umso weniger geeignet. Warum also nicht gleich dem Massentourismus den Rücken kehren und in die Region fahren? Das haben wir uns schon im Jahr zuvor gedacht. Sitges eignet sich super als Kompromiss zwischen entspanntem Urlaub, Ausgehen, Feiern und Großstadt. Vielleicht sollte ich die Stadt nicht so anpreisen, sonst ist mein Geheimtipp nicht mehr so geheim und voll von Touristen. Sitges ist mit der R2 vom Bahnhof aus innerhalb von 30–40 Minuten zu erreichen. Die Stadt ist klein und ruhig, aber trotzdem sehr lebendig. Es vergeht kein Wochenende ohne eine coole Veranstaltung, denn es gibt immer etwas zu feiern, ob auf der Festa del Vermut oder auf dem Festival del Jazz. Statt der geplanten zwei Nächte wurde unser Aufenthalt in Sitges auf eine Nacht gekürzt. Ich bin aber sehr froh darüber, dass wir diesen Puffer in Sitges eingeplant haben. So können wir die Tour wie geplant am nächsten Morgen in Richtung Süden fortsetzen. Am Abend haben wir noch Zeit für einen Spaziergang am Strand und einige Pintxos in unserer Lieblingsbar. Für den Kurzaufenthalt haben wir uns dieses Mal für ein kleines Hotel als Unterkunft entschieden. Es befindet sich direkt am Strand und man hat einen schönen Blick auf das Wasser vom kleinen Balkon aus. Nachts kann man sogar bei geöffnetem Fenster die Wellen rauschen hören.
Barcelona – Sevilla – Cádiz
Die Fahrt von Barcelona nach Cádiz dauert ca. 8 Stunden mit Halt und Umstieg in Sevilla. Beim Vorbeifahren wechselt die Landschaft von Küste zu Gebirge. Die Vegetation wird rar und karg. Wir durchfahren einige Städte, in denen ich auch gerne ausgestiegen wäre. Leider kann ich hier nur einen Blick auf die Bahnsteige und die Bahnhöfe werfen. Aber ich muss bescheiden zugeben, dass ich diese Städte schon bereist habe und einen Reiseführer oder zumindest Reiseblog mit Tipps zum Ausgehen und Essen füllen könnte. Der erste Halt führt uns nach Tarragona. Von dort fahren wir weiter nach Zaragoza, Córdoba und Sevilla.
In Sevilla müssen wir das Gleis wechseln und haben genug Zeit, um uns mit authentischen und lokalen Spezialitäten zu verpflegen. Wir schnappen uns ein Aquarius und ein Bocadillo de Tortilla. Ist es eigentlich Slow Food, wenn man beim Slow Traveln etwas genussvoll verspeist?
Hier wechseln wir in einen der Regionalzüge, die regelmäßig zwischen Cádiz und Sevilla verkehren. Jetzt sind es nur noch knapp 2 Stunden, bis wir an unserem Endbahnhof sind. Auf dieser Strecke gibt es keine Abenteuer oder bösen Überraschungen für uns. Es verläuft einfach alles nach Plan und das ist auch mal ganz nett so. Am späten Nachmittag erreichen wir endlich Cádiz – La Tacita de Plata – wie die Stadt liebevoll bezeichnet wird. Bevor es zum Apartment geht, müssen wir vorher beim Vermietungsbüro vorbei und den Schlüssel abholen. Nun kann unsere Auszeit endlich beginnen.
Cádiz – Hannover
In den letzten Februartagen 2020 sind wir Cádiz nach aufgebrochen. Von der Coronapandemie war zu dem Zeitpunkt nur vereinzelt zu hören. In China gab es einige Fälle, bei Mitarbeitern eines bayrischen Betriebes und bei Ischgl-Rückkehrern sowie in Italien. Wir haben uns für die Hinfahrt mit Desinfektionsmittel ausgestattet, für alle Fälle eben. Auf der ganzen Fahrt haben wir nur vereinzelt Menschen mit Mundschutz und Gummihandschuhen gesehen. Die ganz Vorsichtigen und Ängstlichen eben, dachten wir. In Cádiz selbst war von der Pandemie zunächst nichts zu spüren. Bei unserer Ankunft wurde auf den Straßen noch ausgelassen Karneval gefeiert. Am 8. März gab es einen großen Marsch für die Rechte der Frauen, am Donnerstag, den 12. März waren wir bei einer Sherry-Verköstigung bei Osborne in El Puerto de Santa María und am Wochenende hat sich die Lage drastisch zugespitzt. Wir haben einige Vorräte im Supermarkt besorgt, damit wir nicht so oft einkaufen mussten und um den Kontakt zu anderen zu reduzieren. Am Samstag ging dann aber alles ganz plötzlich. Die spanische Regierung hat die Ausgangsbeschränkung verhängt, die ab Montag gelten sollte. Die Menschen durften nur noch in begründeten Fällen das Haus verlassen, um z. B. zum Arzt oder zur Apotheke zu gehen oder wenn du eine Bescheinigung deines Arbeitgebers vorzeigen konntest, um zur Arbeit zu fahren. Es durfte nur noch ein Mitglied des Haushalts einkaufen gehen und du durftest zwar mit deinem Hund Gassigehen, allerdings nur in einem bestimmten Radius von deiner Wohnung und nur für einige Minuten. Daraus entstand sogar ein neues Geschäftsmodell und du konntest den Hund deines Nachbarn mieten, um einen kleinen Spaziergang zu machen. Einige autonome Regionen haben die Ausgangssperre auf Sonntag vorgezogen. So auch Andalusien. Das haben wir zufällig erfahren, als wir Sonntagvormittag auf dem Weg zum Strand waren und von einer Polizeistreife nach Hause geschickt wurden. Am Montag wurden alle unsere Bahntickets storniert, nachdem das Schengen-Abkommen zwischen den europäischen Ländern ausgesetzt wurde. Für uns stellte sich dann die Frage, wie wir uns weiter verhalten sollten. Unser Apartment hatten wir noch bis Ende des Monats, das Ticket nach Barcelona und nach Paris ist storniert worden. Niemand konnte antizipieren, wie die Coronapandemie sich entwickelt und wie lange sie andauert. In spanischen Großstädten spitzte sich die Situation immer weiter zu. Wenn wir krank und hospitalisiert geworden wären, hätten wir den Einheimischen die Krankenhausbetten weggenommen. Nach Telefonaten mit dem Auswärtigen Amt und mit der Botschaft, war die beste Aussage einer Mitarbeiterin: „Stand heute können Sie einen Flug buchen, wenn Sie einen finden. Wie es morgen aussieht und ob die Flieger auch abheben, kann ich Ihnen nicht sagen.“ Ein großes Fragezeichen stand auf unseren Gesichtern geschrieben. Nachdem uns die Lufthansa versichert hat, dass sie alle Passagiere mit einem gültigen Ticket zurückholen wird, haben wir zwei Flugtickets von Sevilla nach Frankfurt gebucht. Slow Travel war damit abgehakt und ich musste wieder fliegen. In der Situation war es aber die bestmögliche Entscheidung. Wir haben daraufhin noch mit dem Vermietungsbüro telefoniert und mitgeteilt, dass wir das Apartment am 19. März verlassen werden, um den Flug von Sevilla zu nehmen. Wir haben vereinbart, dass wir den Schlüssel im Apartment lassen und nachgefragt, ob sie einen Ersatzschlüssel hätten, falls wir wiederkommen müssten. Wir waren uns nämlich nicht sicher, ob die öffentlichen Verkehrsmittel fahren, ob wir damit fahren dürfen und ob wir uns überhaupt draußen auf der Straße aufhalten dürfen.
Die Rückreise nach Frankfurt hat aber ohne besondere Vorkommnisse funktioniert. Es stand nur noch die Frage im Raum, wie wir von Frankfurt weiter fahren und ob wir unseren Zug nach Hannover noch rechtzeitig bekommen oder dort übernachten müssen. Denn zu dem Zeitpunkt durfte man nur noch im Hotel einchecken, wenn man einen beruflichen Grund und eine Bestätigung des Arbeitgebers vorweisen konnte.
Ein letztes Wort zum Abschluss unserer Slow Travel Story
Sich für nachhaltiges und langsames Reisen mit der Bahn zu entscheiden, ist immer eine bewusste Entscheidung, die Überwindung kostet. Gestern haben wir uns dabei ertappt, wie wir beinahe eine 14-tägige Pauschalreise mit Flug nach Cádiz gebucht hätten. Im letzten Moment haben wir uns dagegen entschieden und beschlossen, im September oder Oktober einen längeren Urlaub zu machen, dann aber wieder mit unserem präferierten Verkehrsmittel zu fahren. Ich kann alle Argumente von Flugliebhabern nachvollziehen, denn es ist nun mal sehr preiswert, schnell und einfach zu buchen und bietet manchen mehr Entspannung. Und doch möchte ich auf das Abenteuer nicht verzichten. Also rate ich jedem, der mich fragt, pack den Koffer oder schnalle deinen Backpack um. Du musst es einfach mal ausprobieren und schauen, ob diese Art des Reisens etwas für dich ist. Für mich steht fest, dass ich mich, trotz des Preises und der widrigen Umstände, jedes Jahr aufs Neue für das Reisen mit dem Zug abseits des Massentourismus entscheiden werde.